Reproduktion rassistischer Begriffe beim Sprechen über Rassismus
Triggerwarnung:
Rassismus, Kolonialgeschichte, Gewalt, Trauma
Eine Möglichkeit, Menschen über rassistische Begriffe zu informieren, ist, sich mit Texten aus dem Umfeld der Zielgruppe auseinanderzusetzen. Dafür kann das Modell der Dechiffrierung zur Hilfe genommen werden. Dieses funktioniert in vier Schritten:
- Der literarische Text wird wortkritisch auf potenziell verletzende Wörter und Aussagen geprüft.
- Die im Wort gespeicherten Semantiken werden mittels einer sprachhistorischen Wortanalyse aufgearbeitet.
- Die Funktions- und Wirkungsweise des Worts in Szene und Gesamtwerk werden untersucht.
- Die sprachlichen Gestaltungsmittel werden kritisch reflektiert.
Das Ziel des Modells ist es, verletzende und potenziell verletzende Wörter und Aussagen nicht nur in eine politisch korrekte Sprache zu übersetzen, sondern auch die Wirkmächtigkeit der Aussagen und Wörter zu analysieren und reflektieren (vgl. Kißling 2022).
Bestandteil von analysierten Texten könnte so zum Beispiel das N-Wort sein. Von der Verwendung möchten wir uns ausdrücklich distanzieren. Dennoch erscheint es uns unter bestimmten Umständen – insbesondere zur Aufklärung von Menschen, die sich mit der Thematik der rassismuskritischen Sprache noch nicht vertiefter beschäftigt haben – opportun, diesen Begriff zur Veranschaulichung abzudrucken oder zu benennen. Um Missverständnisse zu vermeiden, kann es jedoch hilfreich sein, zu erläutern, warum ein Begriff im Rahmen eines Zitats reproduziert wird und im Rest des Texts nicht.
Ein weiterer Lösungsansatz ist der Einsatz von Triggerwarnungen. Diese können helfen, Lesenden eine Entscheidung zu geben, ob sie in die unter Umständen emotional traumatisierende Auseinandersetzung mit sprachhistorisch gewaltvollen Wörtern einsteigen möchten.
In ihrem Buch „Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism” schreibt Grada Kilomba-Ferreira im Rahmen einer qualitativen Analyse unter anderem über die psychischen Auswirkungen der Begegnung mit rassistisch flektierter Sprache für von Rassismus betroffenen Menschen. Die Nutzung des N-Worts kann bei diesen Menschen dazu führen, dass Traumata ausgelöst werden. Dabei wird die Konfrontation mit dem N-Wort als Schockreaktion erlebt (vgl. Kilomba-Ferreira 2010: Seite 95f). In diesem Moment wird die persönliche Anbindung der betroffenen Person zur Mehrheitsgesellschaft (der weißen Gesellschaft) abgebrochen und die kolonialhistorische Trennung der Menschen plötzlich erlebbar. Für die Person wird die Zeitlosigkeit dieser rassistischen Trennung der Menschen und die persönliche und gesellschaftliche Degradierung in dem Moment Realität und Gegenwart. Es ist in dem Moment nicht mehr nur ein historisch aufgeladenes Wort (Kilomba 2010: Seite 133).
Die Konfrontation mit traumatischen Spracherfahrungen beeinträchtigt das gesamte psychische System eines Menschen und kann Albträume, Flashbacks oder körperliche Schmerzen verursachen. Eindrücklich ist dies in der Studie „Quiet as it’s kept. Shame, Trauma, and Race in the Novels of Toni Morrison – J. Brooks Bouson, Fanon, Trauma and Cinema” von E. Ann Kaplan belegt (vgl. Kilomba 2010: Seite 133 f.).
Auch die Autorin Amma Yeboah wies anhand von Studien einen indirekten Zusammenhang zwischen dem Leben von Menschen mit Migrationshintergrund und einer schlechteren psychischen Gesundheit nach (vgl. Yeboah 2017).
Solche sprachlichen Verletzungen werden Mikroaggressionen genannt und gehören zu den alltäglichen Erfahrungen für von Rassismus betroffene Personen. Die bereits genannten Studien zeigen auf, dass das Erleben von Mikroaggressionen auch im Rahmen von Literatur stattfindet.
Auch die Wahl des Mediums zur Vermittlung der Inhalte spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Kann mit der Wahl des Mediums ein diversitätssensibler Lernraum geschaffen werden? Gibt es eine Möglichkeit zur Reflexion oder zum Austausch? Kann ein Dialog zu diesem belastenden Thema fortgeführt werden? Wer ist die Zielgruppe (Alter, regionale Herkunft, eigene Betroffenheiten von Diskriminierungen)? All diese Fragen sind sinnvollerweise zu durchdenken, wenn es um die Veröffentlichung von Materialien zu diesem Thema geht. Im Rahmen von schriftlichen Artikeln setzen wir Impulse, aber lassen die Lesenden mit der Reflexion und der emotionalen Auseinandersetzung alleine. Wir können nicht gemeinsam reflektieren oder in den direkten Austausch treten. Wir wissen nicht, was sich Lesende aus dem Artikel behalten und ob wir unsere ursprüngliche Zielsetzung verfehlen oder erreichen. Wir thematisieren ein hochsensibles Thema, schaffen aber keinen Dialog.
Wir sind ein großer Verband mit mehreren zehntausend Mitgliedern: viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichem Alter, regionalen Unterschieden und betroffen von unterschiedlichsten Diskriminierungskategorien. Es ist schwierig, einzuschätzen, wie der Wissensstand zu einzelnen Themen bereits ist.
Als Pfadfinder*innen sind wir Teil einer internationalen Weltbewegung. Wir wollen Kinder und Jugendliche stärken und sie befähigen, ihre Potenziale auszuschöpfen, damit sie als verantwortungsbewusste Bürger*innen die Welt mitgestalten können. Wir wollen gegenseitige Akzeptanz vermitteln, zum Frieden erziehen und gemeinsam daran arbeiten, weltweit Ungerechtigkeit abzubauen (vgl. Ring deutscher Pfadfinder*innen 2023). Das sind große Ziele und es gibt keinen direkten, geraden Weg, diese Ziele in die Wirklichkeit umzusetzen. Ein möglicher Start, daran zu arbeiten, ist, unsere Sprache zu sensibilisieren, sodass wir durch unseren Sprachgebrauch weniger Gewalt reproduzieren und mehr Akzeptanz nach außen tragen. Sprache schafft Wirklichkeit. Sprache ist ein wichtiges Instrument, durch das wir unsere Denkweisen, Haltungen und Werte transportieren können. Wir können uns dafür entscheiden, weniger kolonialhistorische und rassistische Gewalt zu reproduzieren, indem wir auf das N-Wort in unserer Alltagsprache verzichten.
Quellen:
Kilomba, G. (2010). Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. Unrast.
Kißling, M., Dannecker W., Schindler K. (2022). Diversitätsorientierte Deutschdidaktik
Ring deutscher Pfadfinder*innen (2023, 22. Juni) Ziele.
Ziele - Pfadfinden in Deutschland (pfadfinden-in-deutschland.de)
Yeboah, A. (2017). Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland.